Die Qualität des Genres Musical ist vor allem durch die Filmkünstler Vincente Minnelli und Fred Astaire geprägt. Hier zeigt sich eine Logik die innerhalb des Genres zum Standard geworden ist: das Ausbrechen aus dem Alltag. Gilles Deleuze macht in seinen Kino-Büchern auf die philosophische Leistung aufmerksam, nämlich eine alternative Realität darzustellen, die Fantasien mit dem Alltäglichen vermischt. Träume und Pseudo-Träume, wie sie in Singin‘ in the Rain oder An American in Paris einen Fluchtweg aus der Realität liefern, haben allerdings eine zweideutige Wirkung: Aus der normalen Bewegung der Bilder, welche die Realität ab-bilden, transformieren sich durch die Singenden und Tanzenden zwei Welten zu einer, in der eine Bewegung die physikalischen Grenzen überwinden kann. Narratives verwandelt sich zum Spektakulären, Inhaltliches entgrenzt sich und wird Spielball der Wünsche, Phantasien und Träume. In diesem Kontext kann die regenüberstömte Straße auf der Gene Kelly sein Liebesglück ausdrückt einen Teil der Paradoxie zwischen Realität (trister Regentag) und innerer Glückseligkeit (Verliebtheitsgefühl) ausmachen. Tanzen, Steppen und Singen im Regen, Spielen mit den Wasserfluten – Kelly bricht aus, bis er vom Polizisten als Stellvertreter des Realismus gestoppt wird. Der führt den tanzenden Ausbruch wieder in die Wirklichkeit zurück, ohne sie komplett zu zerstören (der Schirm mit dem getanzt wurde, wird einem anderen Passanten geschenkt). Mit dem Tanz öffnet sich der zweidimensionale Raum als Bewegung der Welt oder eher als Übergang zwischen Welten. Der Eintritt in die Welt des Tanzens und Singens ist nicht nur Übergang, sondern auch Erforschung. Zuschauer*innen gelangen in die akustische und optische Welt der Bewegungen eines Anderen, die Figur oder das Erleben der Figur. Die Faszination und das Bangen, sich in den Tiefen des Anderen (Menschen) zu verlieren heißt den Punkt zu erreichen, wo Reales und Imaginäres zusammenfallen. Die Form des Musicals als klingende Bewegung ist deshalb in der Lage Bewegung kunstvoll sinnlich zu gestalten. Emotionen werden aus dem Inneren nach außen getragen, Menschen können fliegen, Räume sich verwandeln. Von einem Moment auf den anderen kann ein Tanzpaar von der öffentlichen Tanzfläche in einem prachtvoll gebauten Ballsaal landen. Deshalb ist auch dieser Übergang aus dem alltäglichen Dialog in die Gesangsnummer für MusiktheaterregisseurInnen so spannend. Denn den typischen „Wo?“ und „Wohin?“-Fragen folgt nun: „Warum wird gesungen?“. Die Bedeutung des Singens und Tanzens in einer Welt, in der es nicht üblich ist, beides öffentlich und laut zu tun, als befreiter Akt außerhalb von Ritualen und Kontexten, kann nur aus einer Motivation heraus erfolgen, die zwangsläufig erscheinen muss. Insofern, um noch einmal zu Singin‘ in the rain zurückzukommen, musste Gene Kelly beim Heimweg seinem Glück Ausdruck verleihen, wie er auch von der Ordnungsinstanz gebändigt werden musste. Denn was wäre das für eine Welt, in der alle Menschen auf der Straße singen und tanzen würden?